Sergej
Netschajew im Interview mit „Rossijskaja gaseta“
Januar
18, 2023
Herr
Netschajew, kann die öffentliche Meinung die Positionierung der Bundesregierung
in Bezug auf den Ukraine-Konflikt beeinflussen?
Die
offizielle deutsche Doktrin besteht heute in der größtmöglichen Unterstützung
für das Regime in Kiew, die „so lange wie nötig“ geleistet werden soll. Und das
nicht nur militärtechnisch, sondern auch politisch, wirtschaftlich und
finanziell. Die Aufgabe lautet: der Ukraine zum Sieg auf dem Schlachtfeld
verhelfen. Die eigentlichen Möglichkeiten der Bundesrepublik sind dabei jedoch
beschränkt.
Erstens:
Die Deutschen sind nicht bereit, diese Hilfeleistung alleine zu stemmen. Aus
Berlin heißt es auf offizieller Ebene immer wieder: Wenn man schwere,
geschweige denn offensive Waffen an Kiew schicken soll, dann habe das nur nach
Rücksprache mit anderen Verbündeten zu geschehen. In erster Linie schaut die
Bundesregierung in Richtung Washington und Paris.
Zweitens:
Es gibt nicht so viele Möglichkeiten für militärische Hilfslieferungen in der
Bundesrepublik, sollen doch nach Medienberichten in Deutschland die
Bundeswehrreserven mit Blick auf die Exporte schwerer Waffen durchaus eingeschränkt
sein.
Drittens:
Auch Reaktionen aus Politik und Gesellschaft sind zu berücksichtigen. Innerhalb
der deutschen Politik gibt es eine Gruppe, die auf eine Maximierung der
Waffenlieferungen bzw. der Lieferungen von schweren Waffen an das Kiewer Regime
und auf die s.g. Solidarität drängen sowie Russland zum Rückzug zwingen und
eine Niederlage beibringen wollen. Auch von außen wird auf Berlin in dem Sinne
Druck gemacht. Ein anderes Verhaltensmuster, das einen großen Teil der
deutschen Gesellschaft kennzeichnet, ist die Forderung nach einem Verzicht auf
die Lieferungen schwerer Offensivwaffen. Denn das droht Deutschland zur
Konfliktpartei zu machen, was alle sowohl doktrinär als auch in der
Alltagsrealität selbstverständlich vermeiden wollen. Es ist die Forderung,
unter keinen Umständen zur Partei des Konflikts zwischen der NATO und Russland
zu werden.
Viele in
Deutschland sehen natürlich ein, dass die Unterstützung nach dem Motto «so
lange, wie nötig» sich auf die soziale und wirtschaftliche Lage im Land negativ
auswirkt. Steigende Energiepreise, der Inflationssprung und rückläufige
verfügbare Einkommen lösen vor dem Hintergrund einer uneingeschränkten
Unterstützung für das Kiewer Regime keine Begeisterung bei den Menschen aus.
Die Stimmungslage der einfachen Deutschen ist eine andere als die
Positionierung der Politik. Sehr viele wollen keine Konfrontation mit Russland,
schätzen die Weg der Aussöhnung, den wir gebahnt haben und auf den sich Russland
trotz kolossaler Opfer im Kampf gegen den Nazismus im Großen Vaterländischen
Krieg eingelassen hat. Man weiß um den entscheidenden Beitrag unseres Landes zur
deutschen Einheit und verurteilt die zügellose Diskreditierung von allem, was
einen wie auch immer gearteten Bezug zu Russland hat. Also sind die Meinungen hierzu
gegenteilig.
Die
Lieferungen der deutschen Waffen, aus denen russische Soldaten und Zivilisten
im Donbass getötet werden, legen offensichtliche historische Parallelen nahe.
Vielen in Deutschland ist das bewusst. Bei weitem nicht alle unterstützen den Druck,
dem man die Bundesregierung aussetzt, um die aktuell so vielfach diskutierten
Lieferungen von Kampfpanzern vom Typ «Leopard 2» zu erzwingen. Was die
Lieferungen der Schützenpanzer «Marder» und des Flugabwehrraketensystems
«Patriot» anbelangt, so ist die entsprechende Entscheidung in Berlin gefallen.
Diesen Schritt betrachten wir als unakzeptabel, bedauerns- und
verurteilungswürdig.
Wieso ist
die deutsche Öffentlichkeit, die nach Ihrer Lesart die Waffenlieferungen an die
Ukraine verurteilt, nicht in der Lage, die deutsche Politik zur Änderung ihrer
Position zu bringen?
In
letzter Zeit gehört es sich in Deutschland nicht, auf Meinungen zu hören, die
vom Mainstream abweichen. Es gibt eine Doktrin, die von der Politik mit
Beteiligung von Verbündeten aus euroatlantischen Strukturen erarbeitet wurde.
Anderslautende Positionen werden marginalisiert und diskreditiert. Die jüngsten
Umfrageergebnisse in der Bundesrepublik Deutschland machen deutlich, dass über
die Hälfte der Befragten sich nicht trauen, ihre eigene Meinung zu den einen
oder anderen Entwicklungen zu äußern.
Das
Gleiche geschieht in der deutschen Medienlandschaft. Es gibt das Hauptnarrativ,
das die Entwicklungen in der Ukraine einseitig darstellt. Das hat mit der
Objektivität und Unvoreingenommenheit nichts zu tun. Versuche, einen
alternativen Standpunkt zu lancieren, werden hintertrieben. Ihre Kollegen aus
russischen Medien, die in deutscher Sprache senden, wurden mit Sanktionen
belegt. Auch der Botschaft versucht man den Zugang zum medialen Podium zu
entziehen. Wir finden aber unsere eigenen Möglichkeiten, uns zu artikulieren.
Wie
arbeitet denn die russische Botschaft angesichts dieser drakonischen Maßnahmen
der Bekämpfung Andersdenkender mit deutschen Politikern,
Politikwissenschaftlern und Experten zusammen?
Nach
Beginn der militärischen Spezialoperation haben sich die Arbeitsbedingungen für
unsere Auslandsvertretungen, also nicht nur für die Botschaft, sondern auch
für die Generalkonsulate, ernsthaft verändert. In Berlin entschied man sich
bewusst für eine Zerstörung des über Jahrzehnte aufgebauten Gerüstes der
deutsch-russischen Beziehungen. Für heute sind die wichtigsten Formate einer
einst von ihrem Ausmaß her einmaligen bilateralen Kooperation von der deutschen
Seite einseitig auf Eis gelegt worden.
Die
Kontakte der deutschen Ministerien und Ressorts mit der russischen Botschaft
wurden erheblich heruntergefahren. Die deutsche Wirtschaft, die bekanntlich in
Russland sehr stark vertreten war, wird sehr stärkt unter Druck gesetzt. Damit
will man deutsche Unternehmer zur Aufgabe jedweder Verbindungen nach Russland
zwingen. Einige deutsche Firmen setzen aus diesem Grund die langjährige
Zusammenarbeit mit der Botschaft und den Generalkonsulaten aus. Das
beeinträchtigt den Betrieb unserer Auslandsvertretungen. Unsere besondere
Aufmerksamkeit gilt selbstredend der Sicherheit unserer diplomatischen
Vertretungen und deren Angehöriger.
Ist die
deutsche Wirtschaft so unpolitisch, dass sie bereit ist, Einkommenseinbrüche
einzustecken und nur als Beobachter dazustehen, ohne die Situation zu verändern
zu versuchen?
Ich
widerhole, die Politik setzt die deutsche Wirtschaft massiv unter Druck. Es ist
schwer, das zu übersehen. Den bilateralen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen
ist ein spürbarer Schaden bereits zugefügt worden. Die Zusammenarbeit
wird von der deutschen Seite konsequent heruntergefahren. Arbeitsformate und Organisationsstrukturen werden abgebaut. Die Wirtschaft hält man zur
Manifestation eines unverbrüchlichen Bekenntnisses zur antirussischen Politik
an.
Die
meisten Vertreter der deutschen Wirtschaft verstehen jedoch, dass dieser Weg
ihren Interessen zuwiderläuft. 2013 hatte Deutschland Platz 1 in der Rangliste
der russischen Auslands-Handelsparnter inne. Rund sechs Tausend deutsche Firmen
waren in Russland vertreten. Es ist naheliegend, dass die deutsche Wirtschaft,
die sich führende Positionen auf dem russischen Markt erarbeitet hatte, sich
nicht aus Russland zurückziehen will. Viele Unternehmer wollen ihre etablierten Netzwerke und Präsenz in unserem Land erhalten und suchen deshalb nach
akzeptablen Formaten und Wegen, die Zusammenarbeit fortzuführen.
Es ist
unstrittig, dass die vergangenen 50 Jahre der Erfolgsgeschichte des deutschen
Wirtschaftsmodells in vielerlei Hinsicht auf der zum gegenseitigen Vorteil
stattgefundenen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und Russland aufbauten. Das
wurde vom russischen Präsidenten mehrmals betont. Für Deutschland waren wir der
führende Energielieferant, mit dem auf der Grundlage langfristiger Verträge und
vertretbarer Preise zusammengearbeitet wurde, wovon die deutsche Volkswirtschaft
nur profitierte. Nun kommt es so, dass die von Berlin gegen Russland
eingeführten Sanktionen gravierende soziale und wirtschaftliche Probleme für
die Menschen in Deutschland herbeiführen.
Gibt es
doch noch erfolgreiche intakte Projekte zwischen Russland und Deutschland? Oder
wird ausnahmslos abgebaut?
Ich habe
bereits gesagt, dass sehr viele deutsche Unternehmen am russischen Markt
festzuhalten versuchen. Sie wollen den seit Jahrzehnten herausgearbeiteten
Kooperationsbestand nicht aufgeben und versuchen sich anzupassen, um die
politischen Instanzen nicht allzu sehr zu verärgern.
Die
erfolgreiche Zusammenarbeit in der Kriegsgräberfürsorge besteht weiter. Die
Vereinbarungen mit Deutschland, sowjetische Kriegsgräberstätten, von denen es
hierzulande über vier Tausend gibt, instand zuhalten, sind weiterhin intakt. Das
einschlägige Regierungsabkommen jährte sich neuerdings zum 30. Mal. Es gibt
auch weitere Beispiele.
In einem
Ihrer Interviews sagten Sie, Deutschland würde halb freiwillig halb zwangsläufig
die besonderen Beziehungen zu Russland aufgeben. Wie stellen sich aus Ihrer
Sicht einfache Deutsche die Zukunft der Beziehungen zwischen unseren Ländern
vor?
Ich habe
bereits betont, dass die Stimmungslage einfacher Menschen eine andere ist als
die Positionierung der Politik. Die Menschen wollen keine Konfrontation. Sie
wissen um den Weg der Aussöhnung, der nach dem Krieg gegangen worden war. Der
einfache deutsche Bürger ist überhaupt nicht geneigt, in Russland einen Feind
zu sehen. Er sieht und versteht alles wunderbar und stellt sich die Frage:
Haben denn die Russen uns etwas Böses angetan? Warum haben wir, die Deutschen,
uns mit der antirussischen euroatlantischen Politik so identifiziert? Warum
liefern wir tödliche Waffen an Kiew und führen wirtschaftliche, mediale und
sonstige Sanktionen ein? Und was kommt danach, wenn es an der Zeit ist, „Steine
zu sammeln“, und wenn es um Modalitäten für ein neues System der europäischen
Sicherheit geht? Ist das denn ohne Russland oder gegen Russland realisierbar?
Tatsächlich
konnte man sich in der Vergangenheit schwer vorstellen, dass Deutschland
doktrinal über ein kollektives Sicherheitssystem gegen Russland nachdenken
könnte. Alle Anstrengungen galten der Zusammenarbeit und dem Dialog. Heute aber
ist es die transatlantische Verzahnung, der die Bundesregierung eine absolute
Priorität einräumt. Berlin schaut auf die USA. Eigeständige Schritte sind fast
ausgeschlossen. Zumindest politisch findet nichts ohne Rücksprache mit
Washington statt.
Sie haben
mehrmals von der Diskriminierung gegenüber Russen in Deutschland gesprochen.
Sind diese Probleme immer noch da? Wurden derartige Vorgänge untersucht?
Sieht sich das Russische Haus in Berlin mit Problemen in seinem Alltag
konfrontiert?
In der
Tat haben wir im Frühling 2022 einen sprunghaften Anstieg der Diskriminierung
von Russen und russischsprachigen Landsleuten in der Bundesrepublik
verzeichnet. Die Situation nahm den Charakter einer gezielten Hetzjagd aufgrund
der Sprache und Nationalität an.
Wir
versuchten alle denkbaren Maßnahmen zu ergreifen, um Rechte und Interessen
unserer Landsleute zu gewährleisten. Es wurde eine «e-Mail-Hotline»
eingerichtet, über die Beleidigungen, Kündigungen, Diskriminierungen,
Drohungen, Leistungsverweigerungen etc. hundertfach gemeldet wurden. Wir haben
zuständige deutsche Behörden, Politik und Medien über diese Manifestationen der
Unterdrückung informiert und ein Ende der Übergriffe gefordert. Unsere
Bemühungen haben Wirkung gezeigt. Gegenwärtig stellen wir einen erheblichen
Rückgang bei der Diskriminierung der russischen Bürger und der
russischsprachigen Landsleute fest. In Deutschland bildeten sich
Bürgerinitiativen zur Bekämpfung der Russophobie. Die Botschaft und die
russischen Konsular-Einrichtungen verfolgen dieses Thema sehr genau und sind
bemüht, keinen einzigen unangenehmen Vorfall dieser Art außer Acht zu lassen.
Das
Russische Haus ist nach wie vor geöffnet und trägt die russische Kultur in die
breite Masse. Vor kurzem wurden dort vom Väterchen Frost Lichter am
Weihnachtsbaum angezündet. Es soll ein neuer russischer Film «Tscheburaschka»
gezeigt werden. Wenn man uns keine Steine in den Weg legt, werden wir unsere
Gäste mit der unverwechselbaren Kultur unseres Landes weiter bekannt machen,
verschiedene Veranstaltungen durchführen, Ausstellungen organisieren und Filme
zeigen. Hauptsache, man hindert uns nicht daran.
Inwiefern
lässt sich die cancel culture in Bezug auf die russische Kultur und Sprache in
Deutschland erkennen?
Nach
Beginn der militärischen Spezialoperation war in der deutschen
Medienlandschaft, in den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Bildung eine recht
radikale Ablehnung gegen alles zu beobachten, was mit unserem Land verbunden
ist. Zahlreiche Auftritte und Gastspiele russischer Künstler wurden abgesagt,
gemeinsame Projekte und Kooperationsprogramme wurden auf Eis gelegt. Die
«Rossijskaja Gazeta» berichtete ja über unheilvolle politisch motivierte
Vertragskündigungen mit international bekannten russischen Kulturschaffenden.
Die Zeit zeigte jedoch, dass unsere Missgönner nicht in der Lage sind, die
russische Kultur, Kunst und Sprache zu canceln. Heute ist es völlig
offensichtlich.
Sie
deuteten an, dass es in Deutschland viele Russisch-Lerner gab. Wie sieht es
damit heute aus?
Die Zahl
derer, die in Deutschland Russisch lernen wollen, ist nach wie vor sehr groß.
Im Vergleich zur Zeit der Themenjahre der russischen und deutschen Sprache mag
sie etwas zurückgegangen sein. Dennoch gibt es in fast allen Bundesländern
Schulen und Hochschulen, an denen Russisch unterrichtet wird. Auch das
Russische Haus bietet Russisch-Kurse an. Das Interesse für Russisch bleibt in
Deutschland weiter bestehen.
Ihre
diplomatische Laufbahn hat in der DDR begonnen. Sehen Sie sich nach nach dem
alten Deutschland zurück?
Ich
erinnere mich sehr gern an die Jahre, die ich in der DDR verbrachte und in
denen ich viele Freundschaften schloss. Ich stimme denen nicht zu, die der
politischen Konjunktur zuliebe darüber zu spekulieren versuchen, dass in der
DDR angeblich alles schlecht gewesen sei. Das stimmt so nicht. Vieles von dem,
was es an positiven Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der DDR und der
UdSSR gab, konnte man auf die Beziehungen zwischen Russland und dem geeinten
Deutschland erfolgreich übertragen. Viele unserer Freunde leben noch und sind wohlauf.
Wir sind bemüht, diesen Austausch aufrechtzuerhalten und schätzen diese
Freundschaften sehr.
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Euer ERFRIBENDER