Montag, 22. August 2022

In der Wahrheit sein vs. Recht haben wollen

 In der Wahrheit sein 

vs. Recht haben wollen


22.08.2022 / Oliver Wittwer /  PDF

GesellschaftWeltbilderAnalysen 

Wer recht haben will, ist oft nicht in der Wahrheit. Zumindest ist er sich seiner vermeintlichen Wahrheit nicht sicher, oder seine Motivation ist durch Ängste begründet. Und wer in der Wahrheit ist, muss in der Regel nicht recht haben.  

Grundsätzlich hat jemand, der in der Wahrheit ist, Recht. Doch in dieser Betrachtung geht es um den Zwang, seine Wahrheit anderen beweisen oder aufdrängen zu müssen. Eben recht haben wollen. Diesen Zwang kenne ich von mir selber nur zu gut. Hatte ich doch jahrelang versucht, Menschen in meine Wahrheiten zu ziehen und sie davon überzeugen zu wollen, gewisse Dinge wie ich zu sehen. 

Auch wenn ich nach wie vor der Auffassung bin, schon damals meistens in der Wahrheit gewesen zu sein, muss ich über meine Motivation von damals schmunzeln. Im Nachhinein fühlt sich dieser Drang, andere überzeugen zu wollen, wie eine Besessenheit an.

Doch was trieb mich an?  

Ich beobachtete, dass die Mehrheit der Menschen das, was ich als Wahrheit empfand, nicht erkennen konnten. Und ich war überzeugt, dass meine Ansichten sehr wichtig für die Menschen wären. Zudem hatte ich Angst, dass die Menschen sich verlieren würden, wenn sie an Lügen glauben würden, und dass es uns Menschen dann nicht gut gehen würde, wenn sie meine Wahrheiten nicht kennen. Ja, und das war bei einigen Dingen tatsächlich auch der Fall.  

Doch ich musste irgendwann erkennen, dass ich trotz meiner Bemühungen kaum jemanden hatte von meiner Wahrheit überzeugen können. Es sei denn, er sah es bereits so wie ich. Doch in diesen Fällen war das Überzeugen müssen ja gar nicht mehr notwendig. Ich musste einsehen, dass man Menschen mit Argumenten und logischem Denken nicht dazu bewegen kann, etwas zu reflektieren, etwas zuzugestehen, was sie anders glauben. Wenn sie nicht wollen oder nicht können, dann bringen nicht einmal zehn Pferde sie dazu, ihre Ansicht zu ändern. 

Diese Erkenntnis war für mich lange Zeit sehr schwer zu verdauen. 

Irgendwann gab ich es auf, andere überzeugen zu wollen. Ich wechselte dazu über, bei geeigneten Gelegenheiten einfach meine Wahrheit auszusprechen. Klar und selbstbewusst. Jedoch ohne dabei die Erwartung zu haben, der andere müsste meine Wahrheit übernehmen. Ab diesem Moment änderte sich vieles. Die Menschen hörten mir plötzlich zu. Oft schienen meine Worte sie nachdenklich zu machen. 

Heute beobachte ich diesen Zwang, recht haben zu wollen, immer mal wieder bei manchem Menschen. Die Energie, die sie ausstrahlen, wirkt unangenehm. Man verspürt dabei den Impuls, weglaufen zu wollen. Sie scheinen wie besessen davon zu sein, anderen ihre Ansichten aufzwingen zu wollen. Und wenn man sich auf ein Gespräch oder eine Konversation einlässt, führt das meist zu endlosen Diskussionen. Dabei beobachte ich, dass diese Menschen andere Ansichten gar nicht zur Kenntnis nehmen. Sie interessieren sich nicht für abweichende Wahrheiten oder Argumente. Dadurch findet kein echter Austausch mehr statt. Kein gegenseitiges Inspirieren. Und in der Regel führt diese Art der Kommunikation nicht zu einem Konsens. Im Grunde handelt es sich dann um reine Zeit- und Energieverschwendung.  

Die Angst, die ich bei mir beobachtet und oben bereits erwähnt hatte, ist nur ein möglicher Grund für dieses Verhalten. Ein weiterer, weitaus häufigerer Grund scheint zu sein, dass Menschen Angst haben, ihre Wahrheit könnte doch nicht wahr sein. Also verfolgen sie unbewusst das (unerreichbare) Ziel, alle Menschen von ihrer Ansicht zu überzeugen. Denn würde ihnen das gelingen, dann würde niemand mehr ihre Ansichten infrage stellen. Seit ich mich eingehend mit dem Unterbewusstsein auseinandergesetzt habe, weiss ich, dass Wahrheiten, die man so vehement nach Aussen tragen muss, oft nicht wahr sind. Die Angst davor, dass das, was man glaubt, nicht wahr sein könnte, ist also oft begründet. Dieser hier aufgezeigte Mechanismus ist übrigens der Grund für all die Glaubenskriege der Vergangenheit und Gegenwart, sowie für die durch religiöse Ansichten motivierte Gewalt. 

Ist jedoch jemand in der Wahrheit, das heisst, er hat eine Sache aufrichtig geprüft und weiss, dass er in der Wahrheit ist, dann entfällt die Angst, er könnte sich irren. Meistens sind solche Menschen dann auch aufrichtig genug, dass sie in der Lage sind, ihre aktuellen Wahrheiten zu revidieren. Sie scheuen sich also nicht mehr davor, andere Ansichten zur Kenntnis zu nehmen. Ihr Weltbild wird nicht mehr bedroht, wenn sie zum Schluss kommen, dass sie ihre Wahrheiten revidieren sollten. Sie bauen sie einfach in ihr Weltbild ein und werfen die bisherige Unwahrheit über Bord. 

Folgendes Zitat bringt das Thema sehr schön auf den Punkt: "Wenn du an einer Überzeugung festhalten willst, hilft es, wenn du Beobachtungen und Fakten, die dagegen sprechen, ignorierst". 

Zwei wichtige Aspekte, die ich bei diesem Thema immer wieder beobachtet hatte, möchte ich hier ebenfalls erwähnen: Erstens ist diese Angst davor, die eigene Wahrheit könnte doch nicht wahr sein, den Menschen in der Regel nicht bewusst. Zweitens ist man sich auch nicht bewusst, dass man dem Zwang verfallen ist, recht haben zu müssen. Man ist wie getrieben, es allen zu beweisen, doch es fühlt sich dabei an wie eine heilige Mission. Man bemerkt gar nicht, dass man nicht mehr in der Lage ist, auf andere Ansichten einzugehen, sich in sie hineinzufühlen oder abweichende Argumente zu prüfen. Von echter Wahrheitsfindung findet man darin keine Spur.  

Doch wie kann erkennen, ob man sich selber so verhält? Wie kann man seine eigenen versteckten Ängste ausfindig machen? 

Zuerst braucht es natürlich die bewusste Entscheidung, die Wahrheit finden und erkennen zu wollen. Dieser Wille muss grösser sein als der Wille, seine Ängste zu schützen und in ihnen zu verharren. Ist diese Voraussetzung erfüllt, kann man beispielsweise in Gedanken eine stressige Auseinandersetzung Revue passieren lassen. Egal ob es sich um eine mündliche oder schriftliche Auseinandersetzung gehandelt hat: Man nimmt möglichst die Position eines neutralen Beobachters ein und geht den Dialog in Gedanken nochmals durch und achtet auf die Gefühle und inneren Regungen bei sich selber. Insbesondere bei den Argumenten und Aussagen des Gegenübers. Man sollte versuchen, seine eigenen Worte aus der Sicht des Gegenübers wahrzunehmen. 

Ein geeignetes Tool, um dann seine eigenen Wahrheiten zu durchleuchten, ist der Wahrheitskompass, ein Set von drei Fragen, welches ich kürzlich formuliert habe.  

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