POLIZEIGEWALT
AUF CORONA-DEMOS
Bleib Stark 🤜🤛, [19.04.2022 13:24]
„Andernfalls ist man bloß eine Schönwetter-Demokratie“
Der Rechtsprofessor Nils Melzer hat als UN-Sonderberichterstatter über Folter einige Fälle von brutalem Vorgehen der Polizei bei den Berliner Querdenken-Demos untersucht.
Nils Melzer: Wie in vielen modernen Demokratien ist in Deutschland zwar allgemein akzeptiert, dass Folter und Misshandlung nicht erlaubt sind – aber die Polizeigewalt ist ein blinder Fleck, insbesondere bei Verhaftungen oder Demonstrationen. Die Hinweise, die ich bekommen habe, zeigten einen besorgniserregenden Trend. Zahlreiche Szenen zeigten Polizisten, die eindeutig exzessive Gewalt einsetzten, während die umstehenden Beamten einfach zuschauten oder sogar mithalfen.
WELT: Können Sie ein paar dieser Fälle beschreiben?
Melzer: Man sieht sehr häufig, dass Menschen ohne jede Notwendigkeit zu Boden geworfen werden – das scheint so ein bisschen dazuzugehören, kann aber zu ernsthaften Verletzungen führen. In einer Situation wurde bei einer friedlichen Polizeikontrolle eine Frau daran gehindert, sich zu ihrem Mann zu gesellen, der einem Beamten den Kofferraum seines Autos zeigte. Als sie sich verbal darüber aufregte, kam es vonseiten der Beamten zu einer geradezu grotesken Eskalation, in deren Verlauf die Frau grundlos in einen schmerzhaften Polizeigriff gezwungen und ihr Ehemann und ein Bekannter, die ihr zurecht zu Hilfe eilen wollten, brutal zu Boden gebracht wurden. Es waren sieben Polizisten anwesend, es handelte sich um eine völlig kontrollierte Situation, in der kein Beteiligter auch nur die geringste Gefahr darstellte, welche den Gewalteinsatz gerechtfertigt hätte. Das Video habe ich auch der zuständigen Polizeipräsidentin geschickt und eine Stunde lang mit ihr dazu telefoniert.
WELT: Und?
Melzer: Sie hatte kein Verständnis für meine Kritik. Die Polizei scheint der Irrmeinung zu sein, dass jede ihrer Maßnahmen um jeden Preis durchgesetzt und sogar rein verbale Widerrede sofort mit Gewalt gebrochen werden muss.
Melzer: Jeder dieser Fälle muss zumindest straf- und disziplinarrechtlich untersucht werden.
WELT: Aber in Deutschland ist das ja ersichtlich nicht passiert. Sie haben in Ihrem Schreiben auch nach der Anzahl an Polizeibeamten gefragt, gegen die seit Januar 2020 wegen ihres Verhaltens auf Demonstrationen ermittelt wurde, und in wie vielen Fällen es zu entsprechenden Sanktionen kam. Laut der Antwort der Bundesregierung wurde bisher bundesweit ein Polizist in diesem Kontext verurteilt. Gleichzeitig mussten bereits hunderte Demonstrationsteilnehmer ein Bußgeld zahlen. Wie bewerten Sie das?
Melzer: Hier wird offenbar mit zweierlei Maß gemessen. Bei Polizeigewalt besteht eine große Diskrepanz zwischen den normativen Ambitionen der deutschen Rechtsordnung und deren Umsetzung durch die Behörden. Insgesamt vermitteln die offiziellen Statistiken den Eindruck von De-facto-Straflosigkeit durch Verfahrensverschleppung.
Gleichzeitig sind die Behörden aber stolz darauf, dass sie Teilnehmer an verbotenen Versammlungen oft innerhalb von 24 Stunden verurteilen können.
WELT: Auch in unseren Nachbarländern wurden scheinbar unliebsame Demonstrationen gegen Coronamaßnahmen zum Teil gewaltsam von der Polizei aufgelöst. Hat die Angst vor möglichen „Superspreading-Events“ dafür gesorgt, dass Polizeigewalt eher geduldet wird?
Melzer: Die Politik hat eine große Verantwortung beim Aufbau von Narrativen. In vielen Ländern hat sie in den vergangenen zwei Jahren dazu beigetragen, dass sich die Gesellschaft polarisiert, indem sie die Demonstranten als Staatsfeinde dargestellt hat.
Allfälliges Fehlverhalten ist zeitnah zu bestrafen, Opfer sind zu entschädigen und die Einsatzregeln anzupassen. Im heutigen Umfeld müssen alle modernen Demokratien aufpassen, dass sie der Rechtsstaatlichkeit treu bleiben. Das bedeutet in erster Linie, dass sie den Mut und den Willen aufbringen müssen, Rechtsbrüche durch eigene Behörden und Beamten mit aller Konsequenz zu bekämpfen. Tun sie das nicht, sind sie keine wirklichen Rechtsstaaten mehr, sondern nur noch Schönwetter-Demokratien.
Euer ERFRIBENDER
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